Als Gitarrist von „Rammstein“ hat Richard Kruspe der Metalwelt seinen Stempel aufgedrückt und lebt sich nun auch mit seinem Soloprojekt „Emigrate“ künstlerisch aus. Mit neuH sprach der 47-jährige Multi-Instrumentalist exklusiv über seine Erinnerungen an 9/11, destruktive Schaffensprozesse und seine Abneigung gegen Stripclubs.
Du scheinst ein wenig rastlos: Pendelst zwischen Berlin und New York, spielst in zwei Bands, bist offenbar immer auf der Suche?
Um die Zeit, als ich 40 geworden bin, fing ich an, gewisse Dinge zu hinterfragen. Mich selbst und was ich so mit meinem Leben anstelle. Ich liebe es, Dinge zu erschaffen. Ich bin seit 20 Jahren Mitglied bei Rammstein. Eine tolle Zeit, in der wir alles erreicht haben, was es zu erreichen gibt. Aber manchmal reicht mir das nicht. Ich bin kein Typ, der gerne zurück schaut. Ich schaue nach vorne in Richtung neuer Herausforderungen. Ich will mich entwickeln und neue Erfahrungen machen. Ich glaube nicht an monogame Beziehungen, sondern brauche die Abwechslung. Vielleicht resultiert das aus einer Art Rastlosigkeit, aus einer dauernden Unzufriedenheit, vielleicht habe ich als Kind nicht genug Mutterliebe bekommen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich gerne schöpferisch tätig bin. Und das beschränkt sich nicht nur auf die Musik.
Welcher Einfluss wirkt sich stärker auf dein kreatives Schaffen aus, Berlin oder New York City?
Jede Stadt hat ihren Einfluss. Die Frage ist: Was will man? New York bringt ein gewisses Amerika-Feeling mit ein: CBGBs, Ramones, Punkrock. Berlin bringt etwas sehr Düsteres, fast Launisches in mir hervor. New York repräsentiert für mich die weibliche Seite, Berlin hat etwas sehr Männliches.
Warum deine „Flucht“ nach New York gegen Ende der 90er, auf dem Höhepunkt der europäischen Rammstein-Mania?
Es war Zeit für mich, die Dinge aus der Taufe zu heben, die ich heute mache. Primär bin ich nach New York gegangen, weil meine damalige Frau dort lebte. Außerdem hatte ich das Gefühl, mich von der in Europa herrschenden Rammstein-Manie entfernen zu müssen. Ich brauchte einfach Abstand. Alles wurde ein wenig ungesund. Berlin hatte mich zu dieser Zeit in eine Art Drogenloch gesogen, aus dem ich nicht mehr rauskam.
Du bist in der ehemaligen DDR aufgewachsen, in der Amerika ganz besonders als Symbol von Freiheit und Grenzenlosigkeit angesehen wurde. Hatte die Entscheidung auch damit zu tun?
Komischerweise nicht. Ich hatte nie Sehnsucht nach bestimmten Ländern. Es ging mir eher um generelle Freiheit, als um Ländergrenzen. Als ich zum ersten Mal nach New York kam, fand ich es schrecklich! Es war laut und dreckig. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis ich gelernt habe, was New York wirklich ist und wie sehr mich dieser Ort inspiriert. Ich habe das Gefühl, dass ich dort eine wahnsinnig wichtige Lektion gelernt habe. Ich bin dort hingekommen als sehr naiver, gutgläubiger Ostler, der kein Englisch außer „no“, „yes“ und „please“ beherrschte. Heute bin ich viel abgeklärter. Ich habe mich gefunden, aber dafür sehr viel Lehrgeld zahlen müssen.
Du hast seinerzeit die Anschläge auf das World Trade Center vor Ort miterlebt. Inwieweit haben dich diese Ereignisse geprägt oder ein Trauma hinterlassen?
Ein Trauma habe ich nicht. Ich hatte damals ein Appartement im East Village. Nachdem die erste Maschine eingeschlagen war, bin ich raus und habe dann später gesehen, wie das zweite Flugzeug in den anderen Turm krachte. Ich bin im Osten sehr wohlbehütet aufgewachsen. Mein erstes echtes Trauma habe ich gehabt, als ich die ersten Demonstrationen in der alten DDR mitverfolgt habe. Für mich gab es das vorher nicht. Das, was ich später in New York miterlebt habe, war einfach zu irreal, um es zu begreifen. Man hatte das Gefühl, alles würde sich auf einer riesigen Leinwand abspielen. Erst, als ich mitbekam, wie sich die Menschen in der Zeit danach plötzlich umeinander gekümmert, sich getröstet und einfach Zwischenmenschlichkeit und Mitgefühl gezeigt haben, wurde mir klar, dass etwas sehr Dramatisches passiert sein musste.
Würdest du dich auch irgendwo auf dem Land wohl fühlen?
Nein, heute nicht mehr. Das spiegelt einen weiteren Widerspruch in mir wider: Ich mag es in meiner Wohnung sehr still und ruhig, während draußen das wilde Leben tobt.
In künstlerischer Hinsicht könnte man dich wohl als Workaholic bezeichnen?
Absolut. Ich finde durch meine Arbeit eine Art von Bestätigung, die ich offenbar sonst nicht bekomme. Es ist schon eine Sucht, die in meinem Fall aus der Kindheit resultiert. Irgendwann entwickelt man als Künstler eine Art Blaupause: Man merkt, dass man am kreativsten ist, wenn es einem mental nicht gut geht. Also beginnt man unterbewusst, einen destruktiven Prozess zu entwickeln, sich selber immer wieder in miserable Situationen zu bringen und sich selbst weh zu tun, um wieder schreiben zu können.
Bedeutet dein Soloprojekt Emigrate den Ausgleich zu dieser sich emotional fast hermetisch von der Außenwelt abschirmenden Kunstperson in Rammstein?
Emigrate ist der Gegenentwurf, um die Polaritäten auszugleichen. Einerseits bin ich Mitglied von Rammstein, auf der anderen Seite bin ich ein eigenständiger Musiker, der sich auf eine andere Weise ausdrückt.
Was hast du durch das Schreiben deiner eigenen Texte über dich selbst herausgefunden?
Es hört sich wahnsinnig kitschig an, doch ich war bisher immer fest davon überzeugt, dass es das Wichtigste im Leben wäre, ein guter Mensch zu sein. Während ich das aktuelle Album schrieb, habe ich für mich herausgefunden, dass es noch wichtiger ist, die Balance zwischen Gut und Böse zu halten. Man muss auch seine dunkle Seite ausleben; ich habe das Glück, sie sehr gut in meiner Musik kanalisieren zu können.
So wie zum Beispiel in dem Stück „Get Down“, in dem du gemeinsam mit der in Berlin beheimateten Electroclash-Künstlerin Peaches eine Art dirty-düsteren Porno-Pop zelebrierst, der ebenso gut nach dem Besuch eines Tabledance-Clubs entstanden sein könnte…
Interessant. Ich hasse Striptease-Clubs! Stripclubs stellen in meinen Augen die größte Verschwendung von Geld und Zeit dar. Ernsthaft: Wo ist der Punkt? Man geht dort rein, wird geil gemacht, und verlässt den Laden wieder aufgegeilt. Und dafür hat man auch noch Geld bezahlt. What?
Wie nimmst du als in Brandenburg geborener Ex-New Yorker deine neue, alte Wahlheimat Berlin im 25. Jahr nach dem Mauerfall wahr?
Ich war insgesamt 11 Jahre in New York, seit drei Jahren lebe ich wieder in Berlin. An Berlin mag ich das Internationale. Früher habe ich die Stadt immer als sehr elitär empfunden; sowohl im Osten, als später auch im Westen. Gerade mit Berlin verbindet mich eine große Hassliebe. Ich bin eigentlich kein großer Berlin-Fan. Ich bin damals schon vor dem Mauerfall in den Westen geflüchtet. Ich bin ein halbes Jahr vorher grundlos festgenommen worden. Ich war drei Tage in Haft, inklusive langen Verhören und was noch so dazu gehörte. Nach meiner Freilassung bin ich ganz spontan nach Westberlin abgehauen. Als ich dort ankam, hatte ich das Gefühl von extremer Dunkelheit. Dort wurde mir erst bewusst, was eigentlich passiert war. Diese bunte, tolle Welt, als die man sich den Westen ausgemalt hatte, gab es nicht. Alles war düster, kalt und nicht sehr freundlich. Das komplette Gegenteil von New York.
Du beschreibst dich als jemanden, der typisch deutsche Tugenden vertritt: Du hasst Unordnung ebenso wie Unpünktlichkeit. Und du liebst Schwarzbrot.
Schwarzbrot esse ich heute gar nicht mehr so oft. Manchmal muss man raus in die große, weite Welt, um bestimmte Tugenden schätzen zu lernen. Um eine Art Normalität im Umgang mit seiner eigenen Kultur zu entwickeln.